| 🕖 5 min. | Artwork: Seana Gavin
CompilationExoticaTabuh-Tabuhan

I’m a chump for exotica — a whole genre based on uninformed fantasies of what music on other continents might sound like? Arguably one of the more sonically pleasing products of the colonialist imagination.

Jesús Bacalão, NTS Radio

Ein exotischer Tagtraum

Als ich zu mir komme, muss es schon tiefer Nachmittag gewesen sein. Über mir ein Baum, um mich herum die Seine und die Stadt. Bin ich ohnmächtig geworden? Was ist mit der Kutsche passiert? Mein Magen spielt verrückt und meine Kleidung ist klatschnass. Es ist zu heiß für Paris. Die Art von Hitze, in der dir augenblicklich der Schweiß durch die Haut drückt und du das Gefühl hast heißes Wasser zu atmen. Und ich wurde ausgerechnet jetzt hierher geschickt. Die Stadt ist übervoll und im Rausch. Die Weltausstellung auf ihrem Höhepunkt. Der Eiffelturm gerade fertig und überall stellen die fernen Kolonien Frankreichs ihre Schätze, Maschinen und Bewohner in menschlichen Zoos aus, neugierig beäugt von Voyeuren mit hohen Hüten und polierten Schuhen. Ich fische den feuchten Zettel aus meiner Hosentasche, l’Hotel, 13 Rue des Beaux Arts, 4 Uhr, Zimmer 333, dreimal klopfen. Okay. Schnell. Ich brauche etwas zu trinken. Ich fliehe vor der gnadenlosen Nachmittagssonne in die Lobby, taumele in den Aufzug und drücke auf die 3.

Henri Rousseau — La Charmeuse de serpents (1907)

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Im letzten Moment drängt sich ein Mann hinein. Er hat eine große Mappe und ein dickes Buch über wilde Tiere unter dem Arm. Er entschuldigt sich eilig und stellt sich als Henri Rousseau vor. Sagt, er kommt direkt aus Mexico und dann noch 2–3 Sätze, die ich aber kaum verstehen konnte. Der Schweiß rinnt ihm die Wange herunter bis in das hochgeschlossene Hemd, beide Augenbrauen sind gespannt hochgezogen und er sieht aus als würde er etwas fixieren, was hinter der Fahrstuhlwand zu sein scheint. Sein Anzug wirkt festlich aber abgetragen. Rousseau erzählt weiter, aber ich verstehe nur Fragmente…Urwald…Tiger…Armee…Malsalon…beharrliche Arbeit…ich kann mir keinen Reim daraus machen…Es wird immer heißer und ich bin kurz davor durchzudrehen…Meine Uhr ist stehen geblieben…Hoffentlich bin ich nicht zu spät…

Ich blicke von der Uhr auf und stehe plötzlich in einer Tikibar…Rousseau sagt etwas und huscht schnell in Richtung Tresen…Der Barkeeper kehrt die Scherben einer Rumflasche zusammen…Der Raum ist voller riesiger Pflanzen, hölzerne Masken an der Wand, Rattansessel, Fackeln brennen, tropische Blumenkränze, der Geruch von getöteten Krokodilen…Warum ist es hier so nebelig? Oder sind das meine Augen? Es vermischt sich ein dumpfes Raunen und fremde Gesänge mit Bongos und seltsamen Vogelgeräuschen…Nackte Tänzerinnen in Bananenröcken tragen eine ausgestopfte Schildkröte hinter den Tresen…Aus der Küche höre ich Schüsse…Easylistening Alptraum…

War ich wieder ohnmächtig? Ein Tiger läuft durch die Bar, im Maul einen Safarihelm…Ich stolpere über einen umgestürzten Kofferhaufen…Ein schmächtiger Junge hört auf darauf zu trommeln und fragt mich nach der Zeit…Kopfschüttelnd wedele ich mit meiner Uhr…Rousseau steht plötzlich wieder neben mir und summt fröhlich ein Lied aus meiner Kindheit…Eden Ahbez bestellt eine Schale Nüsse und wirft seine Schuhe in Richtung Tür, wo gerade eine spanische Reisegruppe hereinstürmt und auf den mexikanischen Koch wegen ihres Mittagessens einbrüllt…Ich bekomme einen harten Stoß in den Rücken…Hinter mir gerät Les Baxter in einen Faustkampf mit Yma Sumacs Ehemann, der ihn beschuldigt eine Note gestohlen zu haben…Rousseau fragt, ob ich ihm 10 Francs leihen kann…Ich möchte wissen, ob der Fahrstuhl schon losgefahren ist und taumele im Kreis…Muss die Augen schließen, um mich zu sammeln…

Im nächsten Augenblick ist die Bar um mich herum verschwunden und nur Rousseau steht noch neben mir…Er hatte gerade angefangen den Tiger zum zweiten Mal zu malen…Als ich ihn daraufhin anspreche erschrickt er leicht…Dann geht endlich der Fahrstuhl auf…Ich verabschiede mich, schleiche zu Zimmer 333 und klopfe an die Tür…

Magischer Realismus

Martin Denny und Les Baxter waren mit Sicherheit mit dem Werk von Henri Rousseau vertraut. Was das Genre Exotica und die Bilder Rousseau’s verbindet ist, dass sie künstliche Paradiese erschaffen. Dabei ging es nie um Authentizität oder ein Abbild der Realität, schließlich war Rousseau nie selbst im Urwald, auch wenn er es steif und fest behauptet. Vielmehr kreierten sie ein durchaus lebendiges Fabelwesen, welches auf Magie, Naivität und auch Ignoranz beruhte. Ob nun als Ort der tabuisierten Sehnsüchte eines Amerikas in den 50er Jahren oder im Falle Rousseau’s, als sich-selbst-erfüllende-idealisierte-Träume.

Henri Rousseau — Moi-même (1890)
Henri Rousseau — Moi-même (1890)

Aus der Perspektive seiner weltuntauglichen Armut projizierte Rousseau kindliche Wachträume voller Schönheit und Ruhm. So bildhaft und intensiv empfand er seine Traumwelt, dass er im Zwielicht von Zuversicht und Ahnung die Grenzen des Wirklichen überschritt.”
–Lise und Oto Bihalji-Merin, Leben und Werk des Malers Henri Rousseau


‘Fabricated Soundscapes in a Real World’

Meine Playlist des Genres Exotica basiert auf einer Zusammenstellung vom gleichnamigen und sehr empfehlenswerten Buch von David Toop (1999), daraus stammt auch der folgende Text.

Exotica ist die Kunst der Ruinen, die zerstörte Welt der Verzauberung, die in glühender Fantasie verwüstet wurde, das Paradoxon eines imperialen Paradieses, das von kolonialen Eingriffen befreit wurde, ein goldenes Zeitalter, das durch die grellen Farben eines Cocktailglases nachgebildet wurde, illusorische und abgelegene Zonen von Vergnügen und Frieden, die nach der Bombe geträumt wurden. Es bleibt nichts übrig, außer Stränden, Palmen, Touristenorten mit ihren moosbedeckten Denkmälern, Geschäften mit einheimischer Kunst für die Eindringlinge, Bars für Strandgutsammler und einer absurden Wahrnehmung dessen, was einst gewesen sein könnte.”

Vielen Dank Jean-Marie Dhur für die Übersetzung und deine Sendung!

Sie umfasst die bekannteren Vertreter Martin Denny, Les Baxter und Yma Sumac, außerdem Interpretationen und experimentelle Versuche unter anderem von den Beach Boys, Dr. John und Throbbing Gristle und modernen Ausprägungen von Dijf Sanders oder Nicola Cruz. Nicht verfolgt habe ich hingegen die gern als Fahrstuhl- und Loungemusik bezeichneten Varianten von Exotica. Nicht darin auftauchen tut die japanische Perkussionistin und Tonkünstlerin Midori Takada mit ihrem 1983er Werk Through the looking glass, welches eine wunderbare Assimilation musikalischer Modi aus aller Welt ist. Im Auftaktstück “Mr. Henri Rousseau’s Dream” scheint Takada die gleichen Assoziationen gehabt zu haben und schichtet geschickt Marimba, Gongs, Rasseln und andere Ambient-Elemente mit Glockenspiel, Blockflöte, Tamtam und imitiert Vogelstimmen mit einer Okarina.