| 🕖 5 min. | Artwork: Pablo Martinez
Coming-of-ageHamburger SchuleRock

Tocotronic begleiten viele Leben. Meines auch. Zumindest haben sie das eine ganze Weile getan. Seit ich irgendwann in der zweiten Hälfte der 1990er in meinem elterlichen Jugendzimmer auf VIVA 2 Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk gesehen habe, beschlich mich schon so ein Gefühl… ich meine, in der Zeit war alles irgendwie schwierig… mein absurdes Selbstbild… die Sache mit dem Körper… eine aufkommende Ahnung, dass alles doch nicht ganz so ist, wie man es dir als Kind, hat weismachen wollen… Wut… Vorfreude… Orientierungslosigkeit und noch viele andere unscharfe, intensive Gefühle. In dem Chaos fühlten sich Tocotronic wie etwas Echtes an. Wie haben sie das geschafft? Zum einen ist es die Alltäglichkeit in den Themen, nichts war zu banal für einen Song. Damit wurde im Umkehrschluss auch das Banalste bedeutsam, genau wie in meinem Kopf. Außerdem war es möglich, die Texte immer auf meine eigenen Situationen umzudeuten, weil sie meist im Unkonkreten blieben wie ein doppelter Boden. Und das ganz ohne Deutschtümelei. „Sie wollen uns erzählen, sie hätten eine Seele.“…ob ‚Sie‘ der Staat ist, die Lehrer:innen, unsere Eltern oder doch die Gitarrenhändler:innen bleibt offen. Darüber hinaus sind in Dirk von Lowtzows Songtexten über die Jahre so viele prägnante und zeitlose Parolen entstanden, dass man damit sicher noch viele kommende Generationen mit T-Shirts versorgen kann.

Mal eine kleine Auswahl an ‚Parolen‘ aus Tocotronic-Songs

Endgültig in mein Herz geschlossen habe ich die Band 1996 für ihren Umgang mit dem Musikpreis VIVA Comet aus der Kategorie ‚Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben‘. Sie nahmen die Einladung zwar an, aber lehnten den Preis auf der Bühne stehend mit folgender Begründung ab: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben, na ja…“. Die Kategorie wurde daraufhin abgeschafft.

Doch nun zur Musik. Hier jetzt eine Auswahl der für mich prägendsten Songs in chronologischer Zeitabfolge. Let there be Rock!


Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit

Für mich so ein wichtiger Song von Tocotronic. Alles ist infrage zu stellen, die Bezeichnung ‚Frühlingszeit‘ und wie wir auf all die Menschen um uns herum zugehen. Die Stadt ist voll davon und alle haben offensichtlich Sorgen und Probleme und alle können ein bisschen Zuneigung und ein offenes Ohr gebraucht. Warum nicht einfach hingehen und nett zu den Menschen sein? Wenn du ein paar Mal irritiert angeschaut oder zurückgewiesen wirst, lernst du, dass es wohl doch nicht so einfach ist. Noch nicht hoffentlich.

Fahr‘ doch mit dem Fahrrad in ein anderes Stadtgebiet.
Sag‘ „Hallo“ zu einem Mädchen, das dich erst mal übersieht.“

Letztes Jahr im Sommer

Bis zu einem bestimmten Punkt konnte ich es nicht erwarten, älter zu werden und jedes Jahr war großartiger als das davor. Ich durfte mehr, ich konnte mehr, ich wusste mehr(?)… ich kann mich aber noch gut daran erinnern, wie ich dachte „letztes Jahr war aber schöner!“.

Es ist klar, ich hab‘ noch nie soviel gedacht,
doch irgendwann hatte ich mal mehr gelacht.
Zum Beispiel letztes Jahr im Sommer.“

Ich mag dich einfach nicht mehr so

Es gibt nur cool oder uncool und wie man sich fühlt!
Es gibt nur cool oder uncool und wie man sich fühlt!“

Punkt. Ausrufezeichen!

Ich möchte irgendetwas für dich sein

Dieser fantastische Anti-Lovesong zeigt Tocotronics postrockige Seite. Ich habe die Lyrics immer ein bisschen mathematisch interpretiert. 4 Mal der Wunsch „Ich möchte irgendetwas für dich sein“ und dann 8 Mal die ernüchternde und überwiegende Erkenntnis „Am Ende bin ich nur ich selbst“.

Gehen die Leute

„Die Leute“, alle Menschen der Stadt. Alle, die ich nicht kenne, mit denen ich nichts zu tun habe und die eigentlich nur nerven. Stehen an der Kasse vor mir rum, versperren mir auf dem Bürgersteig den Weg und wahrscheinlich machen die das auch noch mit Absicht, grrrr… wer kennt das nicht.

Wollen sie verhindern
Dass wir vorwärts kommen?
Manchmal könnte man meinen
Ihr blödes Schlendern wäre Absicht“

Sie wollen uns erzählen

Großartiger Protestsong. Insbesondere weil er eben nicht auflöst, wer hier gemeint ist. Ich habe das ’sie‘ immer auf alle Menschen und Instanzen projiziert, die mit meiner Erziehung betraut wurden. Aber das bedingungslose Vertrauen bröckelt langsam und alles alles wird infrage gestellt.

Und unsere Leidenschaft
Ist ihnen rätselhaft“

Die Neue Seltsamkeit

Auf diesem Album hat sich musikalisch und textlich bei der Band etwas verändert. Es gibt auch nicht wenige Fans, die bei K.O.O.K. „ausgestiegen“ sind. Wie dem auch sei, ich war gerade 18 geworden, als die Platte rauskam und bei mir drehte sich eine Menge um dieses Erwachsenwerden, von dem alle sprachen. Was heißt das, was ist das, was muss ich tun, was darf ich jetzt, hat jetzt plötzlich alles, was ich tue Konsequenzen? Der Song beschrieb diesen innerlichen Umbruch wahnsinnig gut für mich. Heute höre ich ihn ganz anders, aber das macht ihn an Ende auch so gut!

Und ich liege im Bett, und ich muss gestehen
Ich habe große Lust, mich nochmal umzudrehen
Draußen, wo sich die Nacht mit dem Tageslicht mischt
Scheint etwas vor sich zu gehen, das auch mich betrifft“

Aber hier leben, nein danke

Eigentlich wunderschön hier. „Aber hier leben, nein danke!“ Das habe ich zumindest schon mal gedacht, als ich durch die sächsische Schweiz gewandert bin oder die Brandenburger Wälder. „Aber hier leben, nein danke“ waren auch die Worte der österreichischen Sängerin Gustav (Eva Jantschitsch) als sie 2005 die höchste musikalische Auszeichnung, den Amadeus, entgegennahm. Bezogen hat sie sich mit dem damals skandalträchtigen Statement auf die rechte Politik der schwarz-blauen Regierung unter Schüssel und Haider.

Ich finde, dass die Zeiten sehr prosaisch sind, extrem konsensgeprägt und vernunftorientiert. Deshalb wollen wir dem eine trotzige Art von Poetik entgegensetzen. Ich würde das durchaus ketzerisch sehen.

Dirk von Lowtzow über den neuen musikalischen Stil auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“

Imitationen

Wenn zwei Menschen länger ein Paar sind, nähern sie sich dann automatisch zu einer Art Mischpersönlichkeit an? Diese Dynamik ist so interessant wie ätzend und kommt in der Regel sehr schleichend.

Imitationen von dir, wiederholen sich in mir.“

Im Zweifel für den Zweifel

Dieses Lied ist eine Befreiung und einmal mehr das Infragestellen. Von Erwartungen von außen, aber auch vom Selbst. Wie geht das Leben? Was ist gut und was ist richtig? Und wer gibt das eigentlich vor? Dass es ok ist, Zweifel zu haben und dann im Zweifel gegen den Strich zu handeln, muss aber auch erst mal mehr oder weniger qualvoll gelernt werden.

Im Zweifel für den Zweifel
Und die Unfassbarkeit
Für die innere Zerknirschung
Wenn man die Zähne zeigt“

Ich öffne mich

Ein wundervolles und eigentlich sehr persönliches Album von Dirk von Lowtzow. Es erschien im Mai 2015 und dieses Jahr war politisch und gesellschaftlich nachhaltig aufwühlend. „Dieser Song“Ich öffne mich“ und auch Solidarität vom gleichen Album versuchen zumindest in meiner eigenen Deutung, dem hässlichen Gesicht Deutschlands etwas entgegenzuhalten.

Ich öffne mich
Öffne die Grenzen für dich
Wir sind mehr als zwei
The damned don’t cry“


Die Nerven – Angst

Am Schluss noch ein Song einer anderen Band, weil der hier wunderbar reinpasst. Die Nerven aus Stuttgart ließen sich in ihrem Musikvideo von Tocotronic spielen. Irgendwo auf dem Land zwischen Broilerwagen und tristem Jugendclub. Für die Jungs von Tocotronic sicher kein neues Szenario, aber halt 20 Jahre später. Das geht nicht ohne Humor.

In meinem Kopf spielen sich Dinge ab, die keiner versteht, die keiner verstehen will. Versteckst du dich? Oder drehst du dich weg?“


Nochmal alle Songs am Stück hören? Diese und ein paar mehr Lieblinge gibt’s in dieser Spotify-Playlist: