| 🕖 9 min. | Artwork: Yui Sakamoto
Back-To-Back-CompilationSong Ping PongZeitreise

Der zweite Teil unseres musikalischen Ping Pongs beginnt in New York und swingt sich dabei zunächst zu ungewöhnlichen 5/4-Takten durch die Underground-Clubs, erzählt von einer blinden Multiinstrumentalistin, verlassenen Atomkraftwerken und schwebt schließlich durch volkstümliche türkisch-osmanische Klanglandschaften.

Gil Scott-Heron – Me and the Devil

Mathias: Dass über den Urheber vom Me and the Devil Blues, Robert Johnson, gerne die Geschichte verbreitet wird, er sei nur so ein begnadeter Gitarrist, weil er seine Seele an den Teufel verkauft hätte ist bekannt. Dass es sich aber hier um eine Adaption handelt, habe ich lange nicht herausgehört. So sehr hat sich Jazz-Poet und Rap-Pionier Gil Scott-Heron’s den Song auf seinem 2010er I’m New Here mithilfe von Damon Albarn’s (!) Keyboard Overdubs zu eigen gemacht. Der Rolling Stone beschreibt es folgendermaßen:

Mit unerbittlicher Härte … dunkel-drückenden Beats, auch mal nur Händeklatschen – mit dem whiskeygetränkten Spoken-Word-Crooning des Sängers, das hier immerzu im Vordergrund steht. Eine moderne Entsprechung von Gospel und Blues. Der Black Preacher erreichte die Clubs.“

John Zorn – Briel

Don: Hallo Mathias, ich freue mich, dass wir diese Serie wieder aufnehmen und bedanke mich vielmals für diesen Insidertipp. In einer Rezension beschrieb ein Kritiker die musikalische Mischung als „wie Massive Attack, die mit Robert Johnson und Allen Ginsberg jammen“, das trifft es für mich ziemlich genau.

Es ist wirklich schade, dass Scott-Heron ein Jahr später in New York verstorben ist. Vielleicht kann man den Song New York Is Killing Me als Abschiedssong sehen, sehr empfehlenswert ist auch das begleitende Video von Chris Cunningham.

Was mich dann sogleich zu meiner Inspiration von Gil Scott-Heron zu John Zorn bringt.

Als ich 2014 das erste Mal in New York war, hatte ich auch das Vergnügen, den Komponisten, Bandleader und Multiinstrumentalisten in seinem Club The Stone (damals noch an diesem Ort) spielen zu sehen.
Für mich gehört er zu den Künstlern, die ich wahrscheinlich nie wirklich verstehen werde, dennoch bin ich von seinen Ansätzen und Ideen sehr angetan.

Ein paar Auszüge zu seinen musikalischen Werken:

  • Neben frei improvisierten Stücken hat er auch spielerische Ansätze entwickelt, die nicht auf einer notierten Partitur beruhen, sondern bei denen die einzelnen Musiker durch eine vorgegebene Zeichensprache Einfluss auf die Entwicklung des kompositorischen Flusses nehmen können.
  • Er spielt mit verschiedenen Ensembles eine Mischung aus Free Jazz, Hardcore, Punk, Noise und Death Metal oder auch so abgedrehte Genres wie Jazzcore, eine Verbindung aus Hardcore und Free Jazz.
  • Andererseits komponiert er auch viele Filmmusiken, arbeitete für Orchester und Ensembles wie das Kronos Quartet, widmet sich intensiv der künstlerischen Verarbeitung seiner jüdischen Wurzeln und macht zudem noch gefühlt tausend andere Dinge.
  • Und er ist auch ein großer Vertreter der New Yorker Downtown-Szene.

Auf seinen Musiklabels Tzadik und Avant hat er eine große Fülle von Alben eingespielt und produziert. Sehr viele Werke, die unter Zorns Namen veröffentlicht werden, wurden von ihm lediglich komponiert. 

Besonders gut gefällt mir das von ihm komponierte Stück „Briel“ hier in der Version der United States Navy Band.

Mindestens genauso gut ist natürlich die Version des Silk Road Ensembles, die haben eindeutig einen riesen Spaß.

Kevin Morby – Harlem River

Mathias: Wow Don, was für ein interessantes Venue und ein noch interessanterer Künstler. Richtig gefreut hat mich zu lesen, dass es den Laden ein paar Blocks weiter immer noch gibt. Bei New York denke ich meist als Erstes an Lou Reed, lustigerweise hat der auch schon im Stone gespielt.

Ich möchte aber trotzdem lieber einen längeren Spaziergang nach Norden machen, vorbei am Central Park und mich dann 7 Minuten an den Harlem-River setzen und mich vom Schlagzeug hypnotisieren lassen. Kevin Morby, eigentlich Texaner, war gerade nach Los Angeles weitergezogen, als er Ende 2013 sein Debütalbum veröffentlichte war als Hommage an New York gedacht war. Bis zu dem Zeitpunkt hat er bei den großartigen Woods Bass und bei The Babies gespielt und mit Harlem River sowas wie einen Durchbruch gefeiert. Ich schätze mittlerweile vor allem seine fantastischen Arrangemenskills.

Großartig, wie perfektdosiert er z. B. in seinem 2014er Singing Saw Trompeten und Hintergrundgesänge einbaut. Jetzt aber wieder zurück an den Fluß, der eigentlich keiner ist. 🙂

New York Ska Jazz Ensemble – Take Five

Don: Tja, ich kann mich von dieser wunderbaren Stadt leider wirklich nicht trennen: Sie bietet halt wirklich so viel und noch mehr. Und außerdem waren und sind die Straßen dort immer voller Musik: Swing, Musicals, Punk oder Hip-Hop sind dort entstanden.
New York gilt seit jeher als eine der musikalischen Säulen der Welt, die eine starke und vielfältige Mischung aus allen Genres hervorbringt. Eine wunderbare Komposition aus Karten und Storytelling findet sich auf der Seite The importance of music in New York City.

Wie du ja weisst bin ich ein Freund von spannenden Genre-Mischungen und da darf das New York Ska-Jazz Ensemble in dem Zusammenhang einfach nicht fehlen.

Ich bin schon gespannt wie und wo es jetzt weiter geht, Harlem River hab ich jedenfalls schon fest in mein Herz geschlossen.

Big Apple Bonus-Track: Englishman in New York, weil so schön.

Radiohead – Morning Bell

Mathias: Das nenne ich mal einen Klassiker, ich würde behaupten, selbst die größten Jazzmuffel kennen den Song. Im Original hat Paul Desmond den Song im bis dahin sehr unüblichen 5/4 Takt geschrieben. Standard waren eher der klassische 4/4 oder der 3/4 Walzertakt. Womöglich kommt daher auch der Name Take Five. Lustigerweise ist jeder Song vom 1959er Album Time Out in einem anderen Takt geschrieben, was der Band damals große Kritik im Vorhinein einbrachte. Schließlich wollten die Leute zu den Platten tanzen. Schlimm genug, dass sie es gewagt haben, eigene Songs zu pressen, statt der gern gesehenen Jazz-Versionen bekannter Lieder.

Jedenfalls führt mich der 5/4 nun direkt zu Radiohead. Als Band auf dem vermeintlichen Rock’n’Roll-Gipfel im Jahr 2000 ein Album wie Kid A herauszubringen, hat nicht wenige komplett irritiert und überfordert. Symptomatisch ist der Song Morning Bell, im wunderbar schrägen und trotzdem eingängigen 5/4 Takt.

Radiohead – Morning Bell – Live at the BBC studios, 2001

Auf dem 8 Monate später erschienenen Album Amnesiac tauchte Morning Bell noch einmal auf, nun allerdings nicht im 5/4, sondern im 4/4 Takt. Radiohead sind bekannt dafür, mehrere Versionen ihrer Songs einzuspielen, in diesem Fall haben es beide Versionen auf die Alben geschafft.

Boston – Foreplay/Long Time (Rachel Flowers)

Don: Morning Bell kommt wunderbar treibend daher und jetzt kann ich sogar sagen aus welchem Grund, dank dir! Vielleicht traue ich mich jetzt auch langsam mehr an Radiohead heran.

Ich habe gerade gelesen, dass die Band 1992 in Radiohead nach einem Song von Talking Heads namens Radio Head umbenannt wurde. Aber lassen wir doch David Byrne ganz persönlich bei der Aufnahme in die Rock & Roll Hall of Fame 2019 sprechen: Er lobt vor allem Radioheads musikalische und veröffentlichungstechnische Innovationen und ist selber ein großer Fan der Band.
Die Alben, die Radiohead im Laufe ihrer Karriere veröffentlichten, haben die von ihnen so heftig kritisierte Musikindustrie für immer verändert und der experimentelle Ansatz gilt als Wegbereiter für den Sound des Alternative Rock.

Ein weiterer wirklich außergewöhnlicher und innovativer Mensch ist die weltbekannte Multiinstrumentalistin und Komponistin Rachel Flowers, deren Musik mehrere Genres umfasst.
Sie wurde 15 Wochen zu früh geboren, was dazu führte, dass sie wenige Wochen nach ihrer Geburt dauerhaft erblindete.
In der Doku Hearing is Believing: The Story Of A Blind Teenage Musician wird ihre wundervolle Geschichte erzählt. Der Film begleitet sie bei ihren täglichen Aktivitäten und man erfährt durch ihre Mutter und ihren Bruder, bei denen sie lebt, mehr über ihre Kindheit und ihr Familienleben. Viele von Flowers‘ musikalischen Fähigkeiten scheinen vererbt zu sein und liegen ihr im Blut. Ihre Eltern haben sich über die Musik verbunden und waren beide Musiker.

Ich habe eine grandiose Version von ihr des Klassikers Foreplay/Long Time der Prog Rock Boston entdeckt:

Bonus: Das komplette Album Tarkus von Emerson, Lake & Palmer als Jazz Piano-Version.

Evelyn Glennie (feat. Björk) – Oxygen

Mathias: Es ist für mich schwer vorstellbar, wie das Erlernen eines Instrumentes ohne Sehen zu schaffen ist. Beeindruckend! Es gibt tatsächlich eine Menge Menschen, die es mit sehr eingeschränkten Sinnen geschafft haben, herausragende Musiker:innen zu werden. Wie lernt man Instrumente ohne sehen zu können? Und wie hört man Musik ohne Gehör?

Bei meiner Recherche nach diesen Fragen bin ich schnell auf Evelyn Glennie gestoßen. Sie wurde aufgrund einer Nervenkrankheit in der Kindheit hochgradig schwerhörig und ist ‚trotzdem‘ eine weltweit bekannte Percussionistin und Komponistin geworden. Ihr Perkussionslehrer brachte ihr bei, die Töne durch ihre Vibrationen wahrzunehmen und zu unterscheiden. In diesem TED-Video demonstriert sie ganz wundervoll, warum Hören von Musik und Sound viel mehr beinhaltet, als Schallwellen auf sein Trommelfell treffen zu lassen.

Neben vielen großen Orchestern der Welt hat Evelyn Glennie unter anderem mit Björk gemeinsam Musik gemacht, die im Drama Dancer in the Dark (2000) von Lars von Trier eine erblindende Frau spielt, die die Welt um sich herum als Musik wahrnimmt. Nun das Stück Oxygen, welches die beiden zusammen 1998 aufgenommen haben:

Brandt Brauer Frick – Masse

Don: Was für eine faszinierende Frau, Glennie (er)lebt Musik und beschreibt ihre Verbindung zum Klang so bemerkenswert anschaulich. Und dann auch gleich noch Björk dazu.
Ich habe zwei Zitate aus ihrem TED-Talk mitgenommen:

  • „Musik ist unsere tägliche Medizin.“
  • „Was immer die Augen sehen, klingt ebenso mit.“

Eine ähnlich atemberaubende Klang-Erfahrung habe ich 2011 bei einem Konzert des Techno-Projekts Brandt Brauer Frick im Berliner Berghain gemacht. Im Dezember 2022 durfte ich sie nochmals in der Berliner Philharmonie erleben.

Die Idee ist hier repetitive und groovende Formeln der elektronischen Tanzmusik mit der Klangwelt der neuen klassischen Musik zu vereinen. Hierfür werden Instrumentalparts klassischer Musikinstrumente aufgenommen bzw. live dargeboten und als Samples elektronisch verarbeitet.
Klingt irgendwie kompliziert? Am besten in ihr Debütalbum You Make Me Real direkt reinhören und die Medizin wirken lassen.

Abgesehen von der Musik, die für mich wirklich etwas Neues hat, stehen ihre Musikvideos und das Artwork in nichts nach. Eines der letzten Videos wurde in einem Atomkraftwerk gedreht, das in den siebziger Jahren in der Nähe von Wien gebaut wurde. Nach dessen Fertigstellung gab es in Österreich eine Volksabstimmung, die sich gegen die Atomkraft aussprach.

Das Kernkraftwerk ging glücklicherweise nie ans Netz und durfte stattdessen als Kulisse ihres neuesten Single-Projekts „Masse“ dienen. Die Mehrzahl ist hier entscheidend: „Masse“ ist nicht bloß ein einziges Video. Jedes Instrument wurde in einem anderen Raum des Kraftwerks platziert, jede Tonspur ganz für sich verfilmt.

Review von Das Filter

Auf der interaktiven Website darf der Zuschauer entscheiden, ob er das Drumset aus dem Reaktor, die Holzpercussion aus dem Kontrollraum oder die Violine vom Dach des Kraftwerks hören und sehen möchte: masse.video

Das Video ist übrigens von Anorak Berlin produziert.

Krzysztof Penderecki – Threnody to the Victims of Hiroshima

Mathias: Interessant, wie Musik aus einem Atomkraftwerk eine ästhetische Erfahrung machen kann. So wirkt es beinahe nicht mehr bedrohlich. Ich mag besonders die interaktive Webseite. Die Optik der Schaltelemente erinnert auch an die visuelle Sprache aus der TV-Serie Raumschiff Orion, die nur wenige Jahre vor dem Bau des AKW Zwentendorf gedreht wurde.

Dieser Sprung jetzt ist relativ hart. David Lynch. Twin Peaks. Staffel 3. Episode 8. „Gotta Light“. 2017. Eine ca 11-minütige Szene … ein Atombombentest … ein albtraumhafter Trip … die Geburt des Bösen a.k.a. BOB … unterlegt mit Pendereckis „Threnody to the Victims of Hiroshima“. Geschrieben hat er das Stück 1961 für 52 Streichinstrumente ursprünglich nur als Versuch, eine neue musikalische Sprache zu finden.

Ich war von der emotionalen Ladung des Werks beeindruckt … Ich suchte nach Assoziationen und beschloss schließlich, es den Opfern von Hiroshima zu widmen

Krzysztof Penderecki über das nachträgliche Ändern des Titels von 8’37“ in Threnody to the Victims of Hiroshima

Leider kann ich hier nur einen Ausschnitt der Szene zeigen, aber schaut euch die Staffel auf Showtime am besten gleich komplett an, es gibt nichts vergleichbares!

Scene from Twin Peaks „The Return“, Episode 08 „Gotta Light“

Burhan Öçal & Pete Namlook – Nerden Geliyorsun Part II

Don: Danke, das muss ich erst einmal verdauen. Irgendwie erinnert mich das an die ebenso ergreifende Musik von Hildur Guðnadóttir der Miniserie Tschernobyl, die ich kurz vor der Pandemie live erleben durfte: Ich habe einen kurzen Videoclip von 2020 aus dem Silent Green in Berlin gefunden.
Die ganze wunderbare Musik von Hildur findet ihr in dieser Spotify-Playlist.

Apropos Atom und Musik: Ein Künstler, den ich seit Jahren mit großem Interesse verfolge, nennt sich Atom TM und hat einen schier endlosen Backkatalog mit verrückten Songs, Projekten und Kollaborationen. Er trägt mehr als 60 verschiedene Pseudonyme, aber die meisten kennen ihn vielleicht von seinem Projekt Señor Coconut und dem Album El baile alemán, auf dem er lateinamerikanische Versionen von Kraftwerk-Liedern gecovert hat.

Bei weiteren Recherchen stieß ich dann auf eine spannende Zusammenarbeit mit ihm und Pete Namlook (rückwärts gesprochen der Nachname des Künstlers Peter Kuhlmann), mit einer ähnlich verrückten Diskografie von 330 Alben und ebenso vielen abgedrehten Pseudonymen.

Was mich an Peter Kuhlmann fasziniert, ist die Bandbreite der musikalischen Einflüsse sowie seiner eigenen Produktionen und die generelle Offenheit gegenüber allen Formen von Genres.
Wer mehr über den leider 2012 verstorbenen Kuhlmann erfahren möchte, dem kann ich diese wunderbare Dokumentation (18 min) empfehlen. Darin beschreibt er auch seine ganz eigene Definition von Ambient Music als Musiker, Gärtner, Koch, Beobachter und vielleicht auch Philosoph in seinem Klanglabor in Hödeshof, Traben-Trarbach.

Besonders inspirierend fand ich ein Projekt mit dem türkischen Perkussionisten und Sänger Burhan Öçal aus dem Jahr 2004. Eigentlich habe ich nicht viel über das Album herausgefunden, aber das CD-Inlay beschreibt es recht gut:

Es hat 5 Jahre gedauert, bis Burhan und Peter dieses Album fertiggestellt hatten. Osmanische Instrumente und eine riesige Menge an Percussions mussten Stück für Stück bearbeitet und von Pete Namlook mit dem Sound unserer Zeit angereichert werden. Die sieben Teile dieses Albums reichen von massiven perkussiven Rhythmen über traditionelle türkisch-osmanische Volksmusik bis hin zu Chill-out / Ambient Soundscapes vom Feinsten.

Bonus: Silence V ist eine sehr atmosphärische Klanglandschaft, ambient in der Produktion und relativ spärlich in der Instrumentierung.


Wir haben fast alle der oben genannten Songs auf Spotify gefunden und sie in einer praktischen Playlist zusammengestellt.

Danke fürs Lesen, mehr 🏓 gibt es auf der Seite A:

Square: Freestyle Flores by Max-o-matic

Beyond Inspirations — Side A

This is a brand new Beyond Tape series with a back-to-back-compilation where one track will be the inspiration of the next one. From famous Jazz venues and massive beards over to field recordings and hard live jams in Japan.